Seit vielen Jahren steht ein Lexikon-Set in meinem Bücherregal, das ich zwar hin und wieder abstaube, aber eigentlich nicht benütze.
Jetzt gab es aber doch einen Anlass: Ich war neugierig, ob es einen Eintrag über Mary Wortley Montagu gab, die mit ihren Briefen dazu beigetragen hat, dass im viktorianischen England die “Sprache der Blumen” populär wurde.
Es gibt tatsächlich einen Eintrag, für “Montague (Marie Wortley)” und da steht unter anderem Folgendes: “”In Konstantinopel erhielt sie die Erlaubniß, das Serail des Sultans Achmet III. zu besuchen, unbegründet aber ist die Sage, daß sie diese Begünstigung mit ihrer Ehre hatte erkaufen müssen.” (Band 5, S. 181)
Das hat mich doch ein bisschen schockiert, dass so ein rufschädigender und frauenfeindlicher Satz in einem Lexikon steht, und deshalb habe ich es mir – zum ersten Mal – genauer angeschaut. Was habe ich da eigentlich im Regal stehen?
Ein 8-bändiges Conversations Lexicon ohne Titelei. Die Titelei ging im Lauf der Jahre und Jahrzehnte (bald muß man sagen: Jahrhunderte) irgendwann verloren. Ganz hinten, im letzten Band, findet sich ein Hinweis darauf, dass es sich um eine Brockhaus-Ausgabe handelt.
Der erste Band beginnt mit einem Eintrag über die Stadt Aachen.
Nachdem ich einen ganzen Tag lang recherchiert habe, weiß ich jetzt endlich, was ich daheim im Regal stehen habe: Eine Rarität. Leider in sehr schlechtem Zustand.
Es handelt sich um eine Ausgabe des Brockhaus Bilder-Conversations-Lexicon 1837-1841. Interessant ist, dass meine Ausgabe aus 8 Bänden besteht.
Alle Informationen, die online über dieses Werk zu finden sind, geben an, dass es sich um eine 4-bändige Ausgabe handelt. Meine Bücher waren ganz offensichtlich eine Billigversion für das einfache Volk, gebunden in Pappkarton. (Eventuell zu einem etwas späteren Zeitpunkt veröffentlicht? Oder eine Sonderausgabe für Österreich? Ohne Titelei kann ich dazu keine genauen Angaben machen.).
Der Pappkarton-Einband ist sicher mit ein Grund, weshalb die Bücher in so schlechtem Zustand sind. Trotzdem bin ich sehr glücklich, dass ich diese Lexika identifizieren konnte. Und ich freue mich, dass ich in den Bänden mehrere Lesezeichen gefunden habe, weil das zeigt, dass diese Lexika auch benutzt wurden. Ein als Lesezeichen verwendetes A5-Papier ist ein Kalenderzettel für die Woche von Sonntag, 26. Juli 1925 – Samstag, 1. August 1925. Am Freitag, den 31. Juli 1925, steht da ein Eintrag: “Wäsche”. Ich nehme an, dass es meine Urgroßmutter mütterlicherseits war, die an diesem Tag Wäsche gewaschen hat. Aber vielleicht auch schon meine Oma, die im Jahr 1904 geboren wurde, und zu dieser Zeit schon 21 Jahre alt und mit meinem Opa verheiratet war. Wer immer es war, sie hat sich gebildet über Bison, Bizarrerie, Blanket, Blässe und Blattern (Band 1, Seiten 258-259). Die Lexika erwachen für mich langsam zum Leben.
Die Texte wurden zweispaltig gedruckt, es gibt viele Abbildungen. Die Bände sind folgendermaßen gegliedert: 1: A-B; 2: B-E; 3: F-H; 4: H-l; 5: M-P; 6: P-R; 7: S-T; 8: T-Z.
Spannend ist, dass der letzte Eintrag des ersten Bandes – über den “Bürgerstand” im zweiten Band fortgeführt wurde.
Der erste Band endet mitten in einem Satz, sogar mitten in einem Wort und das Wort und der Satz werden im zweiten Band fortgeführt.
Das habe ich in dieser Form noch nie irgendwo gesehen: “zum Schutz der öffentli=” (Ende Band 1) “chen Sicherheit” (Beginn Band 2).
Auch beim 3. und 4. Band wird das so gehandhabt (mit einem Eintrag über den Hosenbandorden) und im 6. Band werden Einträge mit dem Buchstaben “P” weitergeführt.
Am Ende jedes zweiten Bandes (also in Band 2, Band 4, Band 6 und Band 8) gibt es ein Inhaltsverzeichnis für jeweils 2 Bände. Die zwei zusammengehörenden Bände sind durchnummeriert, die erste Seite des Bandes 2 ist die Seite 353, die Bände 1 und 2 haben gemeinsam 728 Seiten. Im Band 3 beginnt die Seitennummerierung wieder mit Seite 1.
Auch das finde ich sehr spannend, weil ich das in dieser Form nicht von anderen mehrbändigen Büchern kenne.
Leider fehlen in den Bänden meines Lexikon-Sets teilweise einzelne Seiten und besonders die ersten Seiten der einzelnen Bände sind in sehr schlechtem Zustand.
Anscheinend ist heute gar nicht mehr bekannt, dass es diese Billig-Edition für das einfache Volk überhaupt gab.
Die eindeutige Identifizierung meines Lexika-Sets gelang mir anhand der Angaben auf der Webseite “Lexikon und Enzklopädie“, eines Unternehmens, das sich auf diese Art von Büchern spezialisiert hat. Dort findet man Bilder aus einem Faksimilie des Bilder-Conversations-Lexicons und ich habe die Fotos mit meinem Brockhaus-Set verglichen. Die Seiten 216-217 des ersten Bandes stimmen genau mit der Faksimile-Version überein, die auf der Webseite gezeigt wird. Aber meine Ausgabe ist ganz offensichtlich eine Original-Ausgabe und kein Faksimilie, was allein schon anhand des leider sehr schlechten Zustands der Seiten ersichtlich ist.
Ich muss mir jetzt überlegen, was ich mit diesen Büchern mache. Wahrscheinlich werde ich sie irgendwann verkaufen, aber nur an eine Bibliothek bzw. an eine Forschungseinrichtung. Der literaturhistorische Wert einer in Vergessenheit geratenen Brockhaus-Ausgabe ist sicher höher als ihr finanzieller Wert. Aber vorher werde ich noch ausgiebig in diesem Lexikon schmökern.